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von
Wolfgang M. Stroh
Musik und Bildung 6/1982
S. 403 - 497 |
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Thema
Szenisches Spiel im Musikunterricht
Der vorliegende Beitrag ist das Zwischenergebnis der Zusammenarbeit
des Autors mit Ingo Scheller an der Universität Oldenburg.
Scheller hat in vielen Publikationen langjährige
Erfahrungen mit szenischem Spiel im Deutsch-, Geschichts-
und Sozialkundeunterricht dargelegt. Seit einiger Zeit
versucht er zusammen mit dem Autor auch musikalische Elemente
ins szenische Spiel zu integrieren. Die Unterrichtserprobung
findet im Rahmen des Modellversuchs „Einphasige
Lehrerausbildung- statt. Zahlreiche Lehrer, Dutzende von
Studenten und zahllose Schüler haben mit den szenischen
Entwürfen Schellers erfolgreich 2earbeitet. Die nachfolgenden
Ausführungen beziehen sich allerdings auf eine Unterrichtseinheit,
die der Autor selbst an einem Gymnasium durchgeführt
hat.
Beispiel aus dem Unterrichtsalltag
In der 11. Klasse eines Gymnasiums möchte der Musiklehrer
die Schüler dazu bewegen, sich mit neuer Musik auseinander
zu setzen. Missionarische Absichten liegen ihm fern. Er
hat sich lediglich das Ziel gesetzt, daß die Schüler
sich unvoreingenommen mit ungewohnter und schwieriger
Kunstmusik auseinandersetzen, insbesondere hinhören,
über ihre Eindrücke diskutieren, die Absichten
des Komponisten verstehen und begründet Kritik üben
sollen. Um das Prinzip von Kunstmusik zu verdeutlichen,
denkt sich der Lehrer eine Gegenüberstellung von
Kunst-, Volks- und Unterhaltungsmusik aus, von Stücken,
die zur selben Zeit entstanden bzw. mit der Menschen eines
eingrenzbaren Kulturkreises zur selben Zeit umgegangen
sind: Arnold Schönbergs 2. Streichquartett op. 10,
in dessen 2. Satz das Lied „Oh, du lieber Augustin"
verarbeitet ist (uraufgeführt 1908 in Wien), das
Lied „Oh, du lieber Augustin'`, das in Wien so bekannt
gewesen sein muß, daß dem „lieben Augustin"
1908 ein Denkmal errichtet worden ist, und Oscar Straus'
„Ein Walzertraum", 1908 in Wien uraufgeführt
und in den folgenden Jahren über 1000mal in Wien
wiederholt.
Der Musiklehrer stellt alle drei Musikstücke ausschnittsweise
vor und bittet die Schüler, .,unvoreingenommen"
zuzuhören und sich auf die jeweilige Musik- einzulassen.
Subjektive Eindrücke werden schriftlich festgehalten,
die Wirkung der Stücke anschließend diskutiert.
Der Lehrer strukturiert die Diskussion mit dem Ziel, den
Schülern den Unterschied von Kunst-, Volks- und Unterhaltungsmusik
zu verdeutlichen. Zugleich versucht er durch Hinzuziehung
zeitgenössischer Dokumente die Schüler dazu
zu bewegen, sich mit den Absichten der Komponisten bzw.
der Funktion der Musikstücke auseinander zu setzen.
Als geeignete Dokumente erscheinen ihm: Schönbergs
Bericht über die Uraufführung seines 2. Streichquartetts,
ein Brief Anton Weberns über dieselbe Uraufführung,
Bilder und Tatsachenberichte von der Einweihung des Augustin-Denkmals,
-Materialien über Marx Augustin (den „lieben
Augustin" des 17. Jahrhunderts). eine Anekdote über
die Entstehung des .,Walzertraum", sowie verschiedene
Dokumente über die kulturelle, soziale und politische
Situation im Wien der Vorkriegszeit.
Ein sozialgeschichtlicher Musikunterricht dieser Art,
in dem die subjektiven Eindrücke der Schüler
nicht unterdrückt werden. aber auch zeitgenössische
Dokumente zu Wort kommen und das Ziel nicht die Apotheose
bedeutender Komponisten und Werke, sondern das Verstehen
von weithin Unverstandenem ist, entspricht sicherlich
dem Anspruch des gvmnasialen Oberstufen-Unterrichts. Sein
methodisches Prinzip ist aber auch in anderen Schulstufen
und Schularten anwendbar: der gezielte Wechsel von Hinhören,
Selbstreflexion. dokumentarischer Arbeit (an Berichten.
Bildern. Musiktexten), Diskussion. Und dennoch liegt dieser
Art von Unterricht eine Selbsttäuschung von Lehrer
und Schüler zugrunde, die - vor allem bei entlegeneren
Inhalten (wie es Schönbergs Musik ist) - nicht selten
zu Konflikten zwischen Lehrer und Schülern führt.
Selbsttäuschung über die
Inszenierung von Situationen
Der Lehrer ist zusammen mit seinen Schülern im vorliegenden
Beispiel der Meinung, die Schüler haben sich mit
den drei erwähnten Musikstücken auseinandergesetzt.
Dabei haben die Schüler - so meine These - weni2er
die dargebotenen Stücke verarbeitet, als vielmehr
die Situation, die der Musiklehrer in Szene gesetzt, „inszeniert"
hat: da sitzt die Zwangsgemeinschaft „Klasse"
zwischen 10.45 und 11.30 Uhr im Musikraum und hört
auf Anweisun- „unvoreingenommen" (d. h. stillgehalten
und üblicher Reaktionsmöglichkeiten auf ,Musik
beraubt) verschiedenartige Musik an, um anschließend
noch etwas „Persönliches" vor 25 Mitschülern
und dem Lehrer darzubieten. Alle Aussagen, die in dieser
ebenso selbstverständlichen wie erschreckend unnatürlichen
und unmusikalischen Situation getroffen werden können,
werden sich im Grunde auf diese Situation und nicht auf
die „Musik an sich" beziehen!
Die Selbsttäuschung von Lehrer und Schüler besteht
also darin, daß Schüler in Äußerungen
über „die Musik" die vom Lehrer inszenierte
Situation verarbeiten - und zwar ebenfalls auf eine vom
Lehrer inszenierte Art und Weise. Wir haben uns an diese
Täuschung - die übrigens auch für andre
Arten von Inszenierungen gilt und dort eher bekannt ist
(z. B. bei Rockkonzerten, in der Oper, beim Kirchenkonzert)
- schon so sehr gewöhnt, daß wir sie nur aufgrund
besonderer Vorfälle noch bemerken. Ein solcher Vorfall
ereignete sich in meinem Unterricht, als ich die oben
erwähnte Unterrichtseinheit durchführte:
Ich spielte den Schülern zunächst den Tanz um
das Goldene Kalb aus der Oper „Moses und Aron"
vor und ließ die Schüler ihre Eindrücke
in Stichworten aufschreiben. Anschließend las jeder
seine Stichworte vor, ohne daß die anderen kommentieren
durften (Prinzip des Brainstorming). Diese Phase der Stunde
lief recht ruhig und diszipliniert ab. Die Aufgaben -
Zuhören, Stillsitzen, Aufschreiben, Mitteilen - wurden
von den Schülern akzeptiert. In der 2. Hälfte
der Stunde besprachen wir wiederum in ordentlicher Weise
Schönbergs Bericht über die Störungen anlässlich
der Uraufführung seines 2. Streichquartetts. Die
Schüler fragten dabei sich und mich, warum die Zuhörer,
von denen wir annahmen, daß sie relativ gebildet
und vornehm gewesen sind, gepfiffen und geschrieen haben.
Ich fragte in diesem Stadium der Diskussion zurück,
warum eigentlich die Klasse ihren (offensichtlichen) Unmut
über Schönbergs Musik vorher nicht anders als
in der von mir vorgeschriebenen Form geäußert
habe. - An dieser Stelle der Diskussion wurde mir und
den Schülern klar, daß die Reaktionen der Schüler
auf die Musik von der Situation bestimmt waren, die ich
inszeniert hatte. Selbst die Art und Weise, Gefühle
zu äußern, war organisiert worden. Das Verhalten
des feinen Publikums im Schönberg-Konzert erschien
plötzlich noch ehrlicher und „zwangloser"
als das von der Klasse in der eben vorliegenden Stunde
praktizierte.
Allgemeine methodische Konsequenzen
Jeder Unterricht arbeitet mit Erfahrungen, die Schüler
in bezug auf das jeweilige Thema gemacht haben. Im Musikunterricht
ist allgemein bekannt, daß musikalische Erfahrungen
überwiegend außerschulische Erfahrungen sind.
Allerdings beziehen sich Diskussionen und andere Formen
der Verarbeitung solcher Erfahrungen doch fast immer auf
Situationen, die der Lehrer im Unterricht inszeniert hat.
Auch das Hereinholen von Erfahrungen von außerhalb
der Schule ist ein solcher Inszenierungsprozess. So weiß
jeder Musiklehrer, wie abhängig Schüleräußerungen
über ihre Erfahrungen z. B. mit Diskotheken von der
Situation sind, in der der Lehrer fragt; und daß
Schüler oft ganz andere Erfahrungen artikulieren,
wenn ihnen die Gelegenheit geboten wird, z. B. selbst
eine Klassendisco zu konzipieren.
„Erfahrungsbezogener Unterricht", wie er von
Ingo Scheller programmatisch dargestellt - und in vielen
neuen Didaktiken zumindest impliziert - worden ist und
der in engem Zusammenhang mit dem hier dargelegten Konzept
des szenischen Spiels steht, ist ein Unterricht, in dem
schulische Erfahrungen vom Lehrer bewußt inszeniert
werden und das Problem erkannt ist, daß außerschulische
Erfahrungen vom Lehrer hereingeholt werden müssen
und dieser Vorgang selbst eine Art In-die-Szene-Setzen
ist. In einem solcher Unterricht ist sich der Lehrer auch
bewußt, daß sich die Interessen der Schüler
und die Diskussionen in Gruppen oder der Klasse immer
auf Situationen, in denen Menschen mit Musik umgehen,
und nicht so sehr auf die „Musik an sich"-beziehen.
Die Tatsache, daß der Musiklehrer Situationen inszeniert,
in denen die Schüler mit Musik umgehen, und die sie
in Lernprozessen verschiedenster Art aufarbeiten, ist
also keineswegs ein (notwendiges) Übel, sondern eine
Chance de, Musikunterrichts. Der Lehrer sollte diese Chance
nutzen und nicht die Tatsache verdrängen, daß
er inszeniert und sich die Schüler nicht mit der
„Musik an sich", sondern mit Situationen, in
denen sie mit Musik umgehen, auseinandersetzen. Ausgangspunkt
meines Plädoyers für das szenische Spiel im
Musikunterricht ist der Wunsch, diese Chance zu nutzen!
Möglichkeiten des szenischen
Spiels im Musikunterricht
Daß das szenische Spiel zur Erarbeitung relativ
komplexer persönlicher Erfahrungen mit Musik dienen
kann, ist leicht einzusehen. So ist ein Thema wie „Diskothek"
in 8. und 9. Klassen gar nicht anders zu behandeln als
dadurch, daß der Lehrer typische Konfliktsituationen
erarbeiten läßt: zum Beispiel eine Auseinandersetzung
zwischen Vater und Tochter über den Zeitpunkt des
Nach-Hause-Kommens, oder ein Gespräch zwischen zwei
Freunden, von denen der eine seine Freizeit in Diskotheken,
der andere im Sportverein verbringt). Diese Art, Probleme
Jugendlicher in der Schule zu behandeln, soll uns im weiteren
aber nicht so sehr interessieren, weil sie nicht musikunterrichtsspezifisch
ist. Wir haben es hier mit dem szenischen Spiel (genauer:
Rollenspiel) im Deutsch-, Sozialkunde- oder Musikunterricht
zu tun, das nicht mit musikalischer Tätigkeit im
engeren Sinne verbunden ist.
Das Problem des szenischen Spiels im Musikunterricht entscheidet
sich an der Frage, wie musikspezifische Ziele mit Hilfe
des szenischen Spiels erreicht werden können. Hierbei
geht es sowohl um die Verbindung des szenischen Spiels
mit musikpraktischer Arbeit, als auch um die Erarbeitung
typischer Inhalte des Musikunterrichts. Es sollen im folgenden
die Möglichkeiten des szenischen Spiels an dem zu
Beginn erwähnten Unterricht erörtert werden.
Ziele und Materialien der Unterrichtseinheit werden nicht
verändert. Es sollen aber die vom Lehrer inszenierten
Situationen jetzt mit den Schülern zusammen erarbeitet,
bewui3ter gestaltet und explizit in den anschließenden
Diskussionen aufgearbeitet werden. Der Ablauf der Unterrichtseinheit
verändert sich dabei folgendermaßen (s. Schema).
Im folgenden sollen 5 Möglichkeiten szenischer Darstellungen
im Rahmen der erwähnten Unterrichtseinheit schematisch
abgehandelt und dargestellt werden. Jeder Abschnitt gliedert
sich in vier Teile:
a. Spielanweisung und/oder vorgelegte Materialien
b. Handlungsziele der Schüler
c. Mögliche Schwierigkeiten bei der szenischen Darstellung
Verbindung mit musikpraktischer Tätigkeit
d. Fragestellungen zur Auswertung und Diskussion
e. Allgemeine Bemerkungen zum Typ der szenischen Darstellung
1. Die Einweihung des Denkmals vom
„lieben Augustin" 1908 in Wien
a) Die Schüler sollen die Einweihungszeremonie spielen.
Es soll eine kurze Rede des Bürgermeisters Dr. Luegers,
von der einige Zitate wörtlich vorliegen, und eine
Darbietung des Lieds „Oh, du lieber Augustin"
vorkommen.
b) Die Schüler müssen sich überlegen, mit
welchen Argumenten ein Bürgermeister vor der Wiener
Bevölkerung begründet, daß die Stadt Geld
für ein solches Denkmal ausgibt. Sie müssen
sich auch überlegen, wie ein so „triviales"
Lied wie „Oh, du lieber Augustin" bei einer
städtischen Feier wirkungs- und würdevoll eingebracht
werden kann.
c) Warum wurde gerade dem „lieben Augustin"
und nicht dem „Hänschen klein" ein Denkmal
gesetzt? Warum gerade in Wien und nicht - beispielsweise
- in Berlin? Warum wurde gerade 1908 und nicht 1848 oder
1949 solch ein Denkmal eingeweiht?
d) Es handelt sich hier um ein eng umgrenztes Rollenspiel.
Besonders vielfältige Lösungen gibt es bei der
musikalischen Aufgabe, das Lied „darzustellen".
(Hierbei hat sich übrigens gezeigt, daß auch
Schüler der reformierten Oberstufe im Rahmen eines
solchen Spiels ein triviales Liedchen singen!) |
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Ablauf gemäß dem oben erwähnten
Beispiel:
Lehrer stellt Materialien zusammen (zeitgenössische
Dokumente)
Lehrer führt Musik vor (also einen Teil der
Materialien): Inszenierungstyp I
Höreindrücke werden gesammelt: Inszenierungstyp
II
Lehrer legt weitere Materialien vor (Dokumente).
Hierzu Gruppenarbeit, dann gemeinsame Diskussion.
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Ablauf als erfahrungsbezogener Unterricht mit
szenischem Spiel:
Lehrer stellt Materialien (zeitgenössische
Dokumente) und Ideen von Szenen zusammen.
Aufgrund der Szenenvorschläge des Lehrers und
der Materialien erarbeiten die Schüler szenische
Darstellungen. Die szenische Vorführung folgt.
Auswertung der szenischen Darstellung:
1. In Bezug auf den Inhalt für sich genommen
2. Im Hinblick auf die vorliegenden Dokumente. (Frage:
War die Darstellung „realistisch", utopisch
usf.?) |
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2. Wie Oscar Straus die
Walzertraum-Melodie fand
a) Den Schülern liegt eine von B. Gruhn geschilderte
Anekdote über die Entstehung des Walzertraums vor.
Eines Abends saßen die beiden im „Eisvogel"
zusammen, einem jener Restaurants im Prater, und erfreuten
sich der ersten gebratenen Hühnchen mit Gurkensalat,
als zwölf/ Mädchen in weißen Gewändern
und blauen Schärpen die Plattform bestiegen. Sie
hießen die .,Prater-Schwalbeni" und begannen,
die Ouvertüre zu den „Lustigen Nibelungen"
zu spielen. Schwacher Applaus folgte dem Stück. Dann
nahm die Leiterin der Kapelle ihre Violine und begann
mit den ersten Takten von „An der .schönen
blauen Donau". Die Haltung der Zuhörer änderte
sieh schlagartig. Messer und Gabel wurden beiseite gelegt,
die Hühnchen au/ den Tellern wurden kalt. der Wein
im Glase warm und alle Gesichter wurden rund vor Vergnügen.
Oscar bemerkte die Veränderung der Stimmung. Die
Kühle, die hei seinem Stück geherrscht und der
Enthusiasmus, der Johann Strauß' Musik gefolgt war,
gaben ihm Stoff für viele Gedanken. Plötzlich
er schien sich die Spannung der letzten Monate zu lösen,
die Probleme erschienen ihm ungemein wenig kompliziert,
und er sah ganz deutlich einen Weg vor sich: er mußte
einfache, echte Wiener Musik schreiben!
Mittlerweile war die blonde Kapellmeisterin - die später
Vorbild für die Franzi im „Walzertraumr"
werden sollte - zu Straus gekommen. Da sie wußte,
wer er war, grüßte sie und sagte mit entwaffnender
Naivität: Sagen Sie, Herr Straus, warum schreiben
Sie nicht einmal einen wirklich lustigen Walzer für
uns Mädchen? Die Gräfin blickte mit gequältem
Entsetzen von ihrem Teller zu Straus auf; der aber lächelte,
seinen Bleistift aus der Tasche nahm, fünf Linien
aufs Tischtuch zog und begann Noten zu kritzeln. Inzwischen
verwandelte sich die Überraschung der Gräfin
nur unverhohlenen ,Ärger und, obgleich Oscar vier
Takte im 3/4-Takt gefunden und niedergeschrieben hatte,
endete dieser Abend mit einem Mißklang.
Am nächsten Abend aber saß Straus wieder im
,,Eisvogel", nachdem er den ganzen Tag über
an seinem neuen Walzer gearbeitet hatte. Er zeigte ihn
der Kapellmeisterin, die die Melodie summte, während
sieh Oscar ans Klavier setzte und zu spielen begann. Die
andern Mädchen folgten mit ihren Instrumenten - eine
authentische Szenerie, lange bevor in Hollywood solche
Szenen zum Gemeinplatz aller Musikerbiographien werden
sollten ...
Die Schüler sollen die geschilderte Szene nachspielen.
Dabei sollte nur im Notfall die Musik vom Plattenspieler
erklingen; besser wäre in jedem Fall eine mäßig
gute Live-Aufführung. Die beobachtenden Schüler
sollen besonders auch auf die Haltungen der Spieler achten.
b) Die Schüler müssen verschiedenartige Musikstücke
realisieren. Zudem müssen sie im Gespräch zwischen
Gräfin M. und Oscar Straus sich alle möglichen
Argumente für und gegen die Unterhaltungsmusikproduktion
ausdenken.
c) Ist Straus ein Komponist, der dem Volk aufs Maul schaut,
oder ein raffiniert kalkulierender Geschäftsmann?
Wenn diese Geschichte erfunden ist, warum ist sie gut
erfunden? Kann diese Geschichte allein den Erfolg der
Operette „Ein Walzertraum" erklären?
d) Bei dieser Szene liegt faktisch ein komplettes Drehbuch
vor. (Daher können die Spieler weitgehend sich auf
Haltungen und Darstellungsweisen konzentrieren.) Im Spiel
selbst werden musikalische Fertigkeiten gefordert. Offenere
Formen des Rollenspiels finden im Gespräch zwischen
Gräfin und Straus statt. - Als „Konfrontationsspiel"
6) inszeniert kann auch der Lehrer die Position der Gräfin
übernehmen und gezielt die spielenden Schüler
zu Gegenargumenten provozieren.
3. Zerspielen von „Oh, du lieber Augustin"
a) Den Schülern werden kleine Spielmodelle vorgelegt,
anhand derer sie das Lied „Oh, du lieber Augustin"
improvisatorisch bearbeiten sollen. Diese Modelle basieren
auf Kompositionsprinzipien, die Schönberg in seinem
2. Streichquartett angewandt hat: Polytonalität,
Polymodalität, Ostinatobegleitung, Motivwiederholung
innerhalb der Melodie, Motivabspaltung und -fortführung
usf.') Mit diesen „kaputten" Augustin-Versionen
wird eine kleine „Show" - mit Ansager, Playbacks
etc. - organisiert.
b) Das Zerspielen der Melodie macht Spaß. Obgleich
die Melodie recht trivial ist, wird sie als Basis von
Spielmodellen akzeptiert. Musikpraktische Fertigkeiten
jeden Niveaus können produktiv eingebaut werden.
c) Die Show wird dem Schlußteil des 2. Satzes von
Schönbergs 2. Streichquartett gegenübergestellt.
Welche im Lied „Oh, du lieber Augustin" enthaltenen
Ausdrucks- und Darstellungsmöglichkeiten entfalten
die beiden Darbietungsformen Show und Streichquartett?
d) Das im engeren Sinne szenische Element ist bei dieser
Darstellung in den Hintergrund gerückt. Allerdings
kann die krude Art, wie improvisatorisch-spielerisch in
Schönbergs Idiom mit dem Lied umgegangen wird, bereits
selbst als ein szenisches Spielen bezeichnet werden. Szenisches
Spiel rückt hier in die Nähe dessen, was in
der Gruppenimprovisation „Spielkonzept" heißt.
4. Beim Gläschen Wein am Abend des 21. Dezember 1908
a) Nach der Uraufführung des 2. Streichquartetts
sitzt Schönberg mit seinen Schülern, den Interpreten
und dem Konzertveranstalter in einem Wiener Weinlokal.
Man diskutiert, wie in Zukunft solche Skandale verhindert
werden können. Dabei soll auch deutlich werden, wie
die Beteiligten den Skandal interpretieren. Es liegen
Dokumente über die Uraufführung, nicht jedoch
die Äußerungen Schönbergs und Weberns
den Schülern vor.
b) Die Schüler sollen verschiedene Möglichkeiten,
wie Menschen mit einem Mißerfolg „umgehen",
erarbeiten. Die Personen des Gesprächs sollen unterschiedliche
Standpunkte vertreten: Schönberg den des missionarischen
Künstlers, die Interpreten den des nach Anerkennung
strebenden Musikers usf.
c) In der Auswertung werden die erspielten Argumente und
Lösungswege mit originalen Dokumenten konfrontiert:
einen Brief Weberns an Schönberg über die Uraufführung,
Schönbergs späteren Äußerungen zum
Skandal und Schönbergs Konzeption eines „Vereins
für musikalische Privataufführungen".
d) Es handelt sich hier um ein konventionelles Rollenspiel.
Varianten sind denkbar:
Die unter c) genannten Dokumente werden während des
Spiels eingeführt im Sinne eines „reitenden
Boten", der Weberns Brief bringt.
Das Dokument über den „Verein für musikalische
Privataufführung" (vgl. Tabelle) wird in verschiedenen
„Haltungen" verlesen. Jede Lesung soll andere
Akzente setzen und dabei den vielschichtigen Charakter
des Dokuments herausarbeiten (z. B. als polizeiliche Maßnahme,
als elitäres Kunsturteil, als resignierte Äußerung).
5. Publikumsreaktionen
a) Einige Schüler werden „eingeweiht":
sie sollen während der nächsten Hörstunde
sich ungewöhnlich benehmen. Durch dies Benehmen sollen
sie einerseits bestimmte Hörtypen darstellen, andererseits
die Klasse provozieren, da sie aus der üblichen Schülerrolle
herausfallen (vgl. die Ausführungen oben zur Inszenierung
einer Hörstunde).
b) Die scheinbar konventionelle Hörstunde - es erklingt
beispielsweise ein Stück von Schönberg - wird
gezielt gestört (durch Tanzen, Körperwippen,
auffälliges Versinken usf.). Erst nach einer längeren
Phase der Ungewißheit wird den übrigen Schülern
klar, daß einige bewußt gespielt haben.
c) Warum sind Publikumsreaktionen im Konzertsaal anders
als Schülerreaktionen im Musikunterricht?
d) Es handelt sich hier um „unsichtbares Theater",
das von Augusto Boal entwickelt und als politisches Straßentheater
bekanntgeworden ist.
„Der im November 1918 gegründete Verein hat
den Zweck, Arnold Schönberg die Möglichkeit
zu geben, daß er seine Absicht: Künstlern und
Kunstfreunden eine wirkliche und genaue Kenntnis moderner
Musik zu verschaffen, persönlich durchführe.
Zur Erreichung dieses Zieles sind drei Dinge erforderlich:
Erstens: Klare, gut studierte Aufführungen. - Zweitens:
Oftmalige Wiederholungen. - Drittens: Die Aufführungen
müssen dem korrumpierenden Einfluß der öffentlidikeit
entzogen werden, das heißt: sie dürfen nicht
auf Wettbewerb gerichtet sein und müssen unabhängig
sein von Beifall und Mißfallen."
Bedeutung und Stellenwert des szenischen Spiels
Die Diskussionen, die sich an szenische Darstellungen
von musikalischen Problemen anschließen, sind oft
außerordentlich differenziert und lebhaft. Dies
ist meines Erachtens nicht auf die äußerliche
Motiviertheit der Schüler zurückzuführen,
die daher rührt, daß sie auch mal spielen durften
und das Spielen Spaß gemacht hat. Denn dann wäre
nicht zu erklären, warum sich gerade im Musikunterricht
so schwer differenzierte Diskussionen an musikpraktische
Aktivitäten, die der Klasse Spaß gemacht haben,
anschließen lassen. Ich führe die Qualität
jener Diskussionen auf andere Ursachen zurück: Einmal
können sich die Schüler im szenischen Spiel
besser einbringen, weil die Lernsituation nicht mehr auf
einer Selbsttäuschung über den Zwangscharakter
der Situation beruht. Zum zweiten werden ein Thema, ein
Problem oder eine historische Begebenheit wesentlich konkreter
erfahren, wenn sie gespielt werden. Drittens wird dem
Interesse der Schüler an musikalischer Tätigkeit
durch die Vorbereitung, Durchführung und Auswertung
der szenischen Darstellung weit mehr als durch ein Hinhören
auf Musikstücke und ein verstehendes Studieren von
Dokumenten entsprochen. Schließlich zwingt die Aufgliederung
des Lernstoffes in spielbare Szenen den Lehrer bereits
bei der Vorbereitung, sich erfahrungs- und schülerbezogener
als sonst üblich zu verhalten.
Dennoch ist das szenische Spiel, wie es im vorliegenden
Aufsatz dargestellt worden ist, nur eine von mehreren
möglichen Unterrichtsaktivitäten. Der Aufsatz
stellt kein Plädoyer dafür dar, sämtliche
Lern- und Arbeitsformen in Formen des szenischen Spiels
umzuwandeln - es sei denn, man faßt den Begriff
sehr weit. Vor allem die breite Palette musikpraktischer
Lernformen kann nicht ganz im szenischen Spiel aufgehen,
auch wenn sich zielgerichtete musikpraktische Übephasen
oft mit der Vorbereitung einer szenischen Darstellung
verbinden lassen (und verbunden werden müssen). Abschließend
soll auch noch erwähnt werden, daß es gute
Erfahrungen mit szenischem Spiel der hier dargestellten
Art als einer Möglichkeit zur Entwicklung und Einstudierung
eines Schulspiels oder Musicals von repräsentativem
oder schulöffentlichem Charakter gibt' °). Auch
die Verbindung von szenischem Spiel und Liedeinstudierung
ist bereits oft dargestellt und mit Erfolg erprobt 1').
Szenisches Spiel ist auch eine gute Möglichkeit,
Tonbandproduktionen (Hörspiel, Collage usf.) vorzubereiten.
Kurzum, es gibt kaum eine heute im Musikunterricht gebräuchliche
Unterrichtsaktivität, die sich nicht mit szenischem
Spiel verbinden, anreichern, vorbereiten oder neu akzentuieren
ließe.
Anmerkungen (im Haupttext fehlen
hier die Fußnoten)
1) Vgl. zusammenfassend: Ingo Scheller: „Erfahrungsbezogener
Unterricht", Königstein/Ts. 1981
2) Vgl. Studienreihe Musik: „Musik im 20. Jahrhundert",
hrsg. v. Sabine Schutte und Johannes Hodek, Stuttgart
1982 (=Metzler 20280). Darin: Wolfgang Martin Stroh: „Arnold
Schönberg"
3) Zum Beispiel: Mechthild von Schoenebeck: .,Disco -
Eine Unterrichtsreihe für die Sekundarstufe",
in: Politische Didaktik 2/1981, S. 66
4) Bernhard Grun: „Kulturgeschichte der Operette",
Berlin 1967, S.407-08
5) Bernhard Grun: „Prince of Vienna", London
1954, S. 63-65 Vgl. hierzu: Modellversuch „Künstler
Lind Schüler", Berlin: „Das Projektebuch",
Berlin 1981
6 ) Einzelheiten dieser Modelle in den unter 2 genannten
Materialien
8) Vgl. die „Sprechübungen" bei Scheller,
S. 196, und das „Zeitungstheater" bei Augnisto
Boal: „Theater der Unterdrückten", Frankfurt
1979, 5.28
9) A. Boal, vgl. Anm. 8
10) Helmut Schaarschmidt: „Schulangst. Ein Musical",
Witten 1980 (ADM-Vertrieb)
12) Irmgard Merkt: „Haste Töne. Musik zum Selbermachen",
München 1981 |
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aktuell |
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Gaetano Donizetti Maria Stuart |
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21. + 22. September 2006 | 10 - 17 Uhr
Info Basiskurs
für Studierende und Lehrende
Staatsoper Unter den Linden, Berlin |
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